Die Entscheidung für mehr Risiko

Über das Verhalten in Risikosituationen

Täglich müssen wir Entscheidungen treffen, deren Ausgang ungewiss ist. Diese Entscheidungen sind nicht immer rational und manchmal auch systematisch verzerrt. Im Folgenden werden verschiedene psychologische Phänomene beschrieben, die unsere Wahrnehmung und unser Verhalten in unsicheren Situationen ungünstig beeinflussen können.

Die gelernte Sorglosigkeit

Die Theorie der gelernten Sorglosigkeit (Frey & Schulz-Hardt, 1996; Ullrich, Frey, Lermer, Schneider & Streicher, im Druck) erklärt unangemessenes Verhalten durch Gewöhnungseffekte. Stellen Sie sich vor, Sie fahren regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit. Sie fühlen sich sicher. Hin und wieder lenken Sie mit nur einer Hand, weil Sie mit der anderen Ihre Tasche halten. Da Sie keinen Unfall haben, lernen Sie, dass einhändiges Fahren problemlos ist. Nun beginnen Sie, freihändig zu fahren, um während der Fahrt ein Eis zu essen oder zu telefonieren und erleben dies auch als problemlos. Wie im Beispiel veranschaulicht, führt ausbleibende negative Erfahrung zu Gewöhnung und Unterschätzung des tatsächlichen Risikos und somit zu gelernter Sorglosigkeit: Da alles gut ist, fühlen wir uns sicher und nehmen an, dass dies auch so bleiben wird, obwohl unser Verhalten unangemessen ist. Wir haben unser Verhalten unserem verzerrten Sicherheitsgefühl angepasst anstatt dem tatsächlichen Risiko der Situation.

Hier knüpft die Theorie der Risikohomöostase (Wilde, 1982) an. Demnach tendieren Menschen zu riskanterem Verhalten (zum Beispiel riskanterer Fahrstil beim Autofahren), wenn ein Sicherheitszugewinn wahrgenommen wird (zum Beispiel Einführung des Antiblockiersystems). Es wird angenommen, dass jeder bereit ist, ein bestimmtes (individuelles) Risikolevel einzugehen. Sobald externe Faktoren dazu beitragen, dass routiniertes Verhalten sicherer wird, wird der Sicherheitszugewinn durch mehr Risikobereitschaft ausgeglichen.

Aber nicht nur die Veränderung externer Faktoren kann dazu beitragen, dass wir uns für ein Mehr an Risiko entscheiden. Ein geschilderter Sachverhalt kann, sobald er negativ formuliert ist und mit Verlust verbunden wird, zu mehr Risikobereitschaft führen, als wenn er positiv formuliert ist und mit Gewinn assoziiert wird (framing effect). Angenommen Ihr Heimatland bereitet sich auf den Ausbruch einer Epidemie vor, an der voraussichtlich 600 Menschen sterben werden, für welche Intervention würden Sie sich entscheiden?

  • Intervention A: 200 Menschen werden sicher gerettet.
  • Intervention B: Es gibt eine ⅓-Wahrscheinlichkeit, dass 600 Menschen gerettet werden und eine ⅔-Wahrscheinlichkeit, dass niemand gerettet wird.

Amos Tversky und der Nobelpreisträger Daniel Kahneman zeigten in ihrer Forschung zur Prospekt-Theorie, dass sich etwa 72 Prozent der Befragten für die sichere Variante (Intervention A) entschieden. Wie aber verhält es sich, wenn der gleiche Sachverhalt negativ formuliert ist? Welche Intervention würden Sie nun wählen?

  • Intervention C: 400 Menschen werden sicher sterben.
  • Intervention D: Es gibt eine ⅓-Wahrscheinlichkeit, dass niemand stirbt und eine ⅔-Wahrscheinlichkeit, dass 600 Menschen sterben.

Schlechtere Entscheidungen werden sogar bevorzugt, wenn diese ein Risiko vollständig reduzieren

In der Verlustbedingung entschieden sich nun 78 Prozent der Befragten für die riskantere Alternative (Intervention D). Auch wenn sich die Eintrittswahrscheinlichkeiten zwischen den Interventionen A & B und C & D nicht ändern, führt die unterschiedliche Rahmung (Gewinn versus Verlust) zu einer anderen Risikobewertung. Die negative Formulierung führt den fixen Schaden (zum Beispiel 400 Menschen werden sicher sterben) deutlicher vor Augen, als die positive (zum Beispiel 200 Menschen werden sicher gerettet).

Gerade in Situationen mit hoher Unsicherheit streben wir danach, Risiken zu eliminieren

Gerade in Situationen mit hoher Unsicherheit streben wir danach, Risiken zu eliminieren. Schlechtere Entscheidungen werden sogar bevorzugt, wenn diese ein Risiko vollständig reduzieren („zero-risk-bias“). Ein Beispiel (Eller, Streicher & Lermer, 2012): Angenommen Ihr Unternehmen ist durch zwei Insolvenzrisiken bedroht:

  • Risiko A: 15 Prozent Wahrscheinlichkeit für Insolvenz
  • Risiko B: 5 Prozent Wahrscheinlichkeit für Insolvenz

Aufgrund mangelnder Ressourcen können Sie sich nur für eine Intervention entscheiden:

  • Intervention A: Reduzierung des Risikos A auf 5 Prozent
  • Intervention B: Reduzierung des Risikos B auf 0 Prozent

Welche Intervention würden Sie wählen? In Studien entschied sich die Mehrheit für das Nullrisiko (Intervention B), denn damit ist zumindest eines von zwei Risiken sicher eliminiert. Dabei wird aber übersehen, dass diese Entscheidung nachteilig ist. Denn Intervention A reduziert das Risiko um 10 Prozentpunkte, während es bei Intervention B nur 5 Prozentpunkte sind. Menschen empfinden Unsicherheit als ausgesprochen unangenehm und bevorzugen daher die Variante mit Nullrisiko, selbst wenn dies irrational ist.

Die psychologische Distanz

Schließlich beeinflusst die Art und Weise, wie wir über Ereignisse nachdenken maßgeblich wie wir diese mental repräsentieren. So denken wir über eine private Essenseinladung an Freunde anders nach, wenn diese weiter in der Zukunft liegt, als wenn diese heute Abend stattfinden soll. Das zeitlich ferne Ereignis ist mit abstrakten Vorstellungen verbunden. Je näher es rückt, desto detailreicher werden die Assoziationen. Evolutionspsychologisch ist dieser Effekt eine sinnvolle Schonung von kognitiven Ressourcen. Warum sollten wir uns mit Randbedingungen von Ereignissen befassen, die sich bis zum Eintritt des Ereignisses noch ändern können? So ist es beispielsweise erst sinnvoll, sich mit der Frage, ob jeder Fisch mag, zu beschäftigen, wenn die Gäste zugesagt haben. Die gefühlte Distanz zu einem Ereignis wird mit der psychologischen Distanz beschrieben. Diese kann zeitlich sein, aber auch auf anderen Dimensionen beruhen wie Bedeutsamkeit oder Wahrscheinlichkeit. Je distanzierter oder je unwahrscheinlicher sich ein Ereignis anfühlt, desto abstrakter denken wir darüber nach. Interessanterweise gilt das auch umgekehrt. Je abstrakter wir über Ereignisse nachdenken, desto entfernter und unwahrscheinlicher fühlen sich diese für uns an. Dieser Effekt wirkt sich ebenfalls auf Risikoeinschätzungen und -verhalten aus (Lermer, Streicher, Sachs, Raue & Frey, 2015a; 2015b). So zeigte sich, dass ein abstrakter Denkstil zu mehr Risikoverhalten führt im Gegensatz zu einem konkreten Denkstil. Zusätzlich wird unter abstraktem Denken die Eintrittswahrscheinlichkeit von Risiken niedriger eingeschätzt als unter konkretem Denken.

Risikoentscheidungen in der Gruppe

Oft werden Risikoeinschätzungen beziehungsweise Entscheidungen nicht alleine, sondern in Gruppen getroffen. Die psychologische Forschung zeigt, dass Gruppenentscheidungen oft risikoreicher („risky shift effect“) oder aber auch risikoärmer („cautious shift effect“) ausfallen können als der Durchschnitt der Einzelentscheidungen der Beteiligten (Stoner, 1961).

Gruppenentscheidungen fallen oft extremer aus: risikoreicher, aber auch risikoärmer

Dieses Phänomen wird als Gruppenpolarisierung bezeichnet. Erklärt werden diese Effekte durch die Annahme, dass die anfängliche individuelle Tendenz der Teilnehmer in Richtung viel oder wenig Risiko durch die Gruppendiskussion verstärkt wird (Stoner, 1968). Dies wird durch zwei Prozesse forciert. Einerseits sind Menschen besonders offen für Argumente, die ihre eigene Meinung bestätigen. Andererseits haben Menschen das starke Bedürfnis, (von der Gruppe) anerkannt zu werden. Das Vertreten einer abweichenden Meinung ist daher negativ assoziiert. Wer allerdings ausspricht, was die Mehrheit der Gruppe befürwortet, erhält eher Anerkennung. Dadurch passen sich Gruppenmitglieder eher der wahrgenommenen Gruppennorm an und stärken so ihr Zugehörigkeitsgefühl.

Was können wir aus Erkenntnissen der psychologischen Risikoforschung ableiten? Für gute Entscheidungen und ein angemessenes Risikoverhalten ist es zunächst relevant zu wissen, welche Phänomene unsere Einschätzungen und Entscheidungen beeinflussen. Zusätzlich sollten durch Selbst- und Teamreflexion die Entscheidungsprozesse hinsichtlich möglicher Fehleinschätzungen analysiert werden. Außerdem ist es wichtig, die Entscheidungsprozesse so zu strukturieren, dass sie möglichst wenig anfällig für Verzerrungen sind. Ganz allgemein gesehen ist es außerdem ratsam für Unternehmen, die mit Risiken oder schwer überblickbaren Situationen konfrontiert werden, ihre Mitarbeiter und Führungskräfte in psychologischer Risikokompetenz zu trainieren, um den Herausforderungen der richtigen Entscheidung in Risikosituationen besser zu begegnen. Solche Trainings sollten entsprechendes Wissen vermitteln, die Selbstwahrnehmung schulen und die praktische Anwendung üben.

Zur Person

Eva Lermer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Optimierung von Risikoeinschätzungen und Risikoverhalten.

Hochschule

Website der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hier finden Sie Informationen zu Dr. Eva Lermers Vita, ihren Forschungsschwerpunkten sowie eine Liste ihrer Publikationen.

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Zur Person

Bernhard Streicher ist Professor für Sozialpsychologie an der UMIT in Hall in Tirol. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Entscheidungsfindung und Verhalten in Risikosituationen.

Hochschule

Website der privaten Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik. Hier finden Sie Informationen zu Professor Bernhard Streichers Vita, seinen Forschungsschwerpunkten sowie eine Liste seiner Publikationen.

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Fachbeitrag

Auf der Website der Zeitschrift Berg und Steigen finden Sie den Beitrag „Warum wir selbst zum Risiko werden“ von Professor Bernhard Streicher.

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Zur Person

Dieter Frey ist emeritierter Professor für Sozialpsychologie an der LMU in München, Leiter des LMU Center for Leadership and People Management und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Hochschule

Website der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hier finden Sie Informationen zu Professor Dieter Freys Vita, seinen Forschungsschwerpunkten sowie eine Liste seiner Publikationen.

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Video

Die Fakultät für Psychologie und Pädagogik stellt mehrere Videoaufzeichnungen der Vorträge von Professor Dieter Frey zur Verfügung.

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