Der Reiz der Katastrophe

Die Idee der Risikogesellschaft im Diskurs

Schon die Entscheidung zu heiraten kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Doch die Kaprizierung auf Großrisiken wie in der Annahme einer „Risikogesellschaft“ überdeckt viele der alltäglichen mit Entscheidungen verbundenen Risiken. Dies wiederum kann aus soziologischer Sicht sogar zur Ursache neuer Katastrophen werden.

Das „Risiko“ und sein Management sind keine gegebenen Sachverhalte, sondern beziehen ihre Bedeutung, auch für entsprechende Handlungen, aus Diskursen über Risiken. Der von dem kürzlich verstorbenen Münchner Soziologen Ulrich Beck geprägte Begriff der „Risikogesellschaft“ indiziert dementsprechend, dass es um eine Beschreibung der Gesellschaft geht, zu der es diskursive Alternativen wie etwa die Informations-, Erlebnis-, Wissens- und Konsumgesellschaft gibt. Der Begriff der „Risikogesellschaft“ meint in diesem Zusammenhang, dass all diese Formeln zutreffen mögen, dass aber die Gesellschaft am nachhaltigsten von den durch sie eingegangenen Risiken getrieben ist.

Der Begriff der „Risikogesellschaft“ wurde schnell von den Massenmedien aufgegriffen und fand durch die Steigerung zur „Weltrisikogesellschaft“ (WRG) weit über die Soziologie hinaus bemerkenswerte Verbreitung. Indem Beck ganz bewusst die Massenmedien adressierte, strebte er vor allem handlungswirksame Verbreitung an. Von welchem Publikum Beck genau verstanden werden wollte – Wissenschaft, Politik, Massenmedien, soziale Bewegungen –, war nicht immer ganz klar und sollte es wohl auch nicht sein.

Risiken sind nicht zwangsläufig Ursachen von Katastrophen, sondern Formen der Beobachtung von Entscheidungen

In seinen Büchern hat Beck einen engen Zusammenhang zwischen Risiken und Katastrophen zugrunde gelegt. Das irritiert, denn einerseits dachte man bisher, dass die meisten Risiken nicht unbedingt mit Katastrophen verbunden sein müssen. Statt von Horrorszenarien sind Menschen im Alltag viel mehr von den Sorgen vor Fehlentscheidungen getrieben, die „post decisional regret“ (James March) auslösen mögen. Zumindest ist es geläufig, dass Risiken als eine Form der Antizipation von Entscheidungsfolgen interpretiert werden, die immer auch als Chancen gesehen werden können. Aber Beck inszeniert stattdessen einen Zusammenhang von Risiko und Katastrophe, der sich vor allem für die Projektion des Horriblen eignet.

Selektive Risikowahrnehmung

Die Klimakatastrophe, die Unbeherrschbarkeit der Finanzmärkte und der internationale Terrorismus mögen höchst bedenkliche Entwicklungen indizieren, aber sie sind doch nur Ausdruck einer selektiven Beobachterperspektive, die keineswegs so zwingend ist, wie Beck das unterstellt hat. So ist eine Katastrophe nicht einfach etwas Schreckliches, das den Widerstand aller Vernünftigen erzwingt. Eine Katastrophe ist – soziologisch gesehen – vielmehr ein Ereignis, das man um keinen Preis will (Nicholas Rescher). Eine derartige Totalaversion etwa gegen den Ausbau von Kernkraftwerken oder gegen Eingriffe ins menschliche Erbgut ist nicht einfach „gegeben“, sondern Korrelat von Katastrophenschwellen, jenseits derer der „Beckfall“ eintritt, diesseits aber nicht.

Solche Katastrophenschwellen variieren mit sozialstrukturellen Merkmalen wie etwa Armut, Einkommen, Bildung und Geschlecht. Katastrophen sind kein unhintergehbarer Letztgrund einer ungemütlich gewordenen Gesellschaft. Und Risiken sind nicht zwangsläufig Ursachen von Katastrophen, sondern Formen der Beobachtung von Entscheidungen. Sie thematisieren den Aspekt einer nie voraussehbaren Zukunft, die aber jetzt Entscheidungen verlangt.

Um eine Perspektive plausibel erscheinen zu lassen, die nur den uns alle umzingelnden Schrecken von ökologischen, finanzmarktlichen und vom Terrorismus ausgehenden Großrisiken Aufmerksamkeit schenkt, muss diese elementare Offenheit des Entscheidens (Kontingenz) ausgeblendet werden. Ansonsten würde jener Perspektive einer Risikogesellschaft die innere Notwendigkeit fehlen. Und in der Tat kommt der Entscheidungsbegriff bei Beck zwar vor, aber immer nur in der Thematisierung der selbstverschuldeten Unsicherheit im Hinblick auf ungeplante Nebenfolgen (WRG). Die moderne Gesellschaft ist gebannt vom reflexiven Blick auf die eigene kontingente Entscheidungspraxis. Dass diese reflexive Moderne (Beck) an dieser selbst erzeugten Unsicherheit leidet, was mögliche Nebenwirkungen der industriell-technologischen Entwicklung anbelangt, interessierte Beck vor allem. Katastrophen aller Art als ungeplante Nebenfolgen, sind Beck zufolge Resultate einer überbordenden Komplexität der industriell-technischen Entwicklung. Sie sind also Resultate ihrer sachlich-kausalen Unkontrollierbarkeit. Wenn man mehr Kontrolle hätte, könnte man nebenfolgenfrei entscheiden!

Letztlich vertritt Beck eine ins Katastrophische hineininszenierte Variante der Perrow’schen These von den „normal accidents“. Diese Sichtweise basiert eher auf einer aus den Fugen geratenen Sachlogik und vernachlässigt die diabolischen Fallstricke von Entscheidungszwängen, die Zeit in Anspruch nehmen und die die Zukunft buchstäblich riskant (kontingent) machen. Beck optierte für eine „planetarische Ethik“, in der „Täter unmittelbar mit den Folgen ihrer Handlungen konfrontiert werden“. Diese Art von Verantwortungsethik ließe sich nur durch eine „planetarische“ Entscheidung gegen Komplexität realisieren! Für Beck mit dem Ergebnis überschaubarer und deshalb verantwortbarer Kausalitäten, die dann wieder ihren Verursachern zurechenbar wären.

Neue Risiken als „ungeplante Nebenfolge“

Doch was wäre die Konsequenz eines Regimes der Risikoaversion? Neben der vielleicht wünschenswerten Vereinfachung von Kausalitäten würde es andere „ungeplante Nebenfolgen“ geben! Und die Folgen wären ebenso katastrophal: zu wenig Medikamente, zu wenig Lebensmittel für die Welt, zu wenig technischer Fortschritt und anderes mehr. Das sollte man wissen.

Ein Regime der Risikoaversion hätte wünschenswerte, aber auch negative Konsequenzen

Dass Beck dafür keinen Blick entwickelt hat, dokumentiert möglicherweise seine ganz persönliche, allerdings massenmedial gestützte Katastrophenschwelle im Hinblick auf spektakuläre Gefahren. Um mit diesen fertig zu werden, sollten ihm zufolge sämtliche Grundlagen der Gesellschaft „neu erfunden“ werden. Das Zeitalter des Nichtwissens, das Beck in diesem Zusammenhang ausruft, kann, wenn es denn verantwortungsethisch zurückgefahren wird, nur in der finalen Katastrophe durch strukturelle Innovationshemmung enden. Was auf die Umgestaltung „sämtlicher gesellschaftlicher Grundlagen“ hinauslaufen würde, auf die man dann vielleicht doch lieber verzichten möchte.

Besonderen Einfluss übt die „Risikogesellschaft“ auf ökologische und anti-großtechnische Bewegungsdiskurse aus, die Gegenkräfte der „Zivilgesellschaft“ aktivieren. Beck sah darin ein „einigendes Moment“, gar eine „politische Katharsis“. Die Einsicht, dass wir es heute auch mit Risiken zu tun haben, die weltgesellschaftliche Auswirkungen und Ursachen haben, ist zweifellos ein Verdienst von Beck. Andererseits wird diese Einsicht in die Vision einer „reflexiven Moderne“ eingebaut, die sich in erster Linie durch den Zwang ihrer selbstgeschaffenen Gefahren zu Fall bringt. Daran hindern können sie nach Beck’scher Interpretation nur kosmopolitische soziale Bewegungen, wobei unklar bleibt, welche Risiken diese Sozialform nun wieder mit sich bringt – Stichwort: Fundamentalismus.

Die soziologische Theorie der modernen Gesellschaft (etwa Niklas Luhmanns Soziologie des Risikos) wird kategorisch ignoriert, wenn es heißt: „Im Horizont des Risikos gibt es nicht die ‚binären Codierungen‘ – erlaubt oder verboten, legal oder illegal, richtig oder falsch, Wir oder die Anderen. Im Horizont des Risikos gibt es nicht etwa gute oder böse, sondern mehr oder minder riskante Menschen“ (WRG). Für diesen dramatischen Risikodiskurs gibt es bei Niklas Luhmann einen im Vergleich eher unaufgeregten Ausdruck: „Kontingenz als Eigenwert der Moderne“. Und im Besonderen: Kontingenz des Entscheidens, deren Folgen nicht antizipiert, sondern nur nachträglich moderiert werden können (James March). Das gilt für die Entscheidung zu heiraten, für die Wahl des Berufsweges ebenso wie für unwahrscheinliche, aber mögliche technisch-ökologische Katastrophen, die aus einer Vielzahl riskanter Entscheidungen – resultieren (von BSE über Tschernobyl bis zum Berliner Großflughafen). Und die „falsche“ Person geehelicht zu haben, kann sich natürlich gleichfalls zu einer „Katastrophe“ auswachsen. Riskant ist alles, was entschieden werden muss.

 

Literatur Beck, U., 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Ffm.: Suhrkamp
Beck, U., 2007: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Ffm.: Suhrkamp
Luhmann, N., 1991: Soziologie des Risikos, Berlin/New York: de Gruyter
Perrow, Ch., 1984: Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies, NY: Basic Books
March, J.G., 1994: A Primer On Decision Making, New York/London: Free Press
Rescher, N., 1983: Risk. A Philosophical Introduction to the Theory of Risk Evaluation and Management, Univ. Press of America: Lanham/London

Zur Person

Prof. Dr. Klaus P. Japp, Jahrgang 1947, hat eine Professur für „Politische Kommunikation und Risikosoziologie“ an der Universität Bielefeld. Sein Lehr- und Forschungsgebiet ist „Soziologie des politischen Systems und Risikosoziologie“. Bis zu seiner Emeritierung im Juli 2012 war Japp zeitweise Dekan der Fakultät für Soziologie und absolvierte mehrere Forschungsaufenthalte an amerikanischen Universitäten (Harvard, Berkeley). Japp ist Autor mehrerer wissenschaftlicher Publikationen im Bereich „Politische Kommunikation und Risikosoziologie“.

Hochschule

Website von Professor Klaus Japp an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Hier finden Sie unter anderem biografische Daten sowie ausführliche Informationen über Professor Japps Publikationen.

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