Risiko bis in alle Ewigkeit

Sozial-ökologisches Erbe als Problem

Um 1920 kamen mit radiumhaltigem Erz beschichtete Gefäße, „Revigatoren“, in den Handel. Das in den Revigator gefüllte Wasser sollte sich über Nacht mit dem radioaktiven Edelgas Radon anreichern. Am Morgen getrunken, sollte das Wasser die Lebenskraft steigern. Das Gegenteil ist der Fall: Die Schwermetalle, die aus der Karnotit-Beschichtung in den Körper gelangten, wie Blei, Arsen, Vanadium und Uran, wurden in gefährlichen Konzentrationen nachgewiesen, die heutige Grenzwerte zum Teil weit überstiegen.

Was nach heutigem Wissen unvorstellbar ist, war damals ein regelrechter Trend: 1929 gab es allein in Deutschland 80 radioaktive medizinische und kosmetische Präparate, darunter Schokolade und Zahnpasta. Ein durch jahrelangen Konsum eines radioaktiven Tonikums hervorgerufener Todesfall 1931 war der erste, der als Strahlentod erkannt wurde. Daraufhin veränderte sich langsam die Einschätzung des Risikos. Der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Trotz war bis in die frühen 1940er Jahre hinein die thoriumhaltige Zahnpasta Doramad beim Kaufmann erhältlich.

Abbildung 1
Auf dem Inneren des Briefumschlages befindet sich eine Werbung für eine Zahnpasta, welche Thorium enthält und somit radioaktiv ist. Der Briefumschlag wurde am 22. Februar 1936 gestempelt. Fotorecht: Hans-Rudolf Brok

Solche Wandlungen der Risikowahrnehmung traten in der Menschheitsgeschichte immer wieder auf. Sie folgen dabei demselben Muster.

Die Risikowahrnehmung folgt einem Muster: Positive Effekte neuer Entwicklungen werden fast immer überschätzt

Die positiven Effekte neuer Entwicklungen werden überschätzt und die negativen Folgen werden unterschätzt. Die Umweltgeschichte möchte einen Beitrag für eine vorsorgende Gesellschaft leisten, indem sie diesen Wahrnehmungswandel genauer untersucht.

Altlasten des Kalten Krieges

Eine ungewöhnliche Baustelle liegt in Hanford am Columbia River im US-Bundesstaat Washington. Dort werden in einer der größten Reinigungsaktionen der Welt täglich 3.000 Tonnen radioaktiv verseuchtes Material so weit wie möglich gereinigt und für die Zwischenlagerung aufbereitet. Insgesamt ist die 1943 erbaute ehemalige Plutoniumfabrik mit rund sieben Millionen Tonnen kontaminiertem Nuklearmüll belastet. Damit könnte man 612 Fußballfelder einen Meter hoch bedecken. Mehr als 13 Millionen Liter radioaktiver und chemisch gefährlicher Abfall lagern in 177 unterirdischen Tanks, deren Lebensdauer lange überschritten ist. Die Radioaktivität wird auf 176 Millionen Curie geschätzt – das Doppelte von Tschernobyl. Ein Endlager gibt es bislang nicht. Die Plutoniumfabrik war bis 1987 in Betrieb; seit 1989 wird aufgeräumt. Für 44 Betriebsjahre wird also bereits 26 Jahre lang entsorgt.

Wann die Reinigungsaktion abgeschlossen ist, bleibt fraglich. Im Jahr 2005 wurde in Hanford noch mit einer vollständigen Säuberung zum Jahr 2035 gerechnet. 2010 sagte der Hanford Clean-up Report das endgültige Ende der Aufräumungsarbeiten für September 2052 voraus. 2013 legte man sich dagegen gar nicht mehr fest.

Eine langfristige Risikobetrachtung fließt häufig weder in die Planung noch in die Bewertung von Optionen ein

Die in Wiederaufbereitungsanlagen wie La Hague „bewährte“ Technologie der Verglasung radioaktiver Abfälle soll auch in Hanford die Herstellung von langfristig lagerfähigen radioaktiven Abfällen erlauben. Allerdings könnten neue Risiken bei dem Versuch entstehen, die radioaktive, chemisch reaktive und korrosive Brühe in den inzwischen leckenden Tanks zu bearbeiten. Die Verglasungsanlage, als das Herzstück der Aufräumungsarbeiten, kann deshalb vermutlich gar nicht wie geplant nach Vorschrift gebaut werden. Offenbar gibt es bisher kein Verfahren, das unter Einhaltung von Sicherheitsstandards das Risiko beheben kann. Bis von den neun Tonnen Plutonium, die auf dem Gelände in Hanford liegen, nur noch 0,1 Prozent oder neun Kilogramm übrig sind (die Menge, die etwa für den Bau einer Plutoniumbombe benötigt wird), wird es aufgrund der Halbwertszeit etwa 240.000 Jahre dauern. Hanford wird bis ins 22. Jahrhundert eine Anlage bleiben, die umfangreiches Umweltmonitoring und Wartungsarbeiten sowie massive Sicherheitsvorkehrungen nötig macht.

Wenn das sozial-ökologische Erbe zur Ewigkeitslast wird

Die menschlichen Praktiken in Gegenwart und Zukunft werden durch das, was es bereits gibt, beeinflusst – wir nennen dies „sozial-ökologisches Erbe“. Im schlimmsten Fall wird dieses Erbe allerdings zur Ewigkeitslast. So schließt die frühere Nutzung der Nuklearbrennstoff-Fabrik in Hanford nahezu alle künftigen Nutzungen aus.

Hinterlassenschaften von Menschen können gutartig, problematisch oder schlimmstenfalls heimtückisch sein (siehe Tabelle 1). Heimtückische Arrangements erzeugen ein sehr langfristiges Erbe. Eine Gesellschaft, die heimtückische nukleare Vermächtnisse geschaffen hat, muss dauerhaft entsprechend agieren, wie die internationale Politik gegenüber Iran oder Pakistan bezeugt.

Tabelle 1
Arrangements und ihr Vermächtnis © Winiwarter and Schmid 2013

Beispiele für durch technische Eingriffe von Menschen verursachte „Risikospiralen“ finden sich nicht erst im Atomzeitalter. Sie reichen zurück bis in die Anfänge der Menschheit: Ackerbau betreibende Gesellschaften waren oft zunächst nicht in der Lage, die von Gehölzen befreiten Böden ausreichend gegen Wind- und Wassererosion zu schützen; es kam zu gravierenden Bodenverlusten. Andererseits bauten Agrarkulturen in China bereits vor mehreren Jahrtausenden und im südäthiopischen Hochland vor vielen Jahrhunderten Ackerterrassen, um die Lebensgrundlage Boden zu schützen. Ackerterrassen bewirken eine gutartige Ewigkeitsaufgabe, Mauern und Drainagen müssen gepflegt werden. Dies gelang in China über Jahrtausende. Erst die kommunistische Massenkampagne des Großen Sprungs nach vorne veränderte zwischen 1958 und 1961 das ländliche Leben und die Landnutzung in der Volksrepublik vollkommen, was zu einer verheerenden Hungerkatastrophe mit etlichen Millionen Toten führte. Seitdem verfallen viele Terrassen, die Erosion hat dramatische Ausmaße angenommen. In Südäthiopien empfanden manche Bauern in den vergangenen Jahrzehnten die Terrassenpflege als zu aufwendig; sie zerstörten die Mauern und schufen größere steilere Felder. Seitdem mindern starke bodenabspülende Abflüsse in den Regenzeiten die Bodenfruchtbarkeit langfristig. Nicht selten mussten in jüngster Zeit Äcker in Äthiopien aufgegeben werden.

Der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts massiv gewachsene, dauerhaft wirkende Verbrauch der Ressource Boden erhöht zahlreiche Risiken: Es gibt weniger nutzbare Böden, das Wasseraufnahmevermögen wird gemindert, Erosion, Gewässerkontaminationen und Hochwassergefährdung nehmen zu.

Bislang gibt es keine adäquate institutionelle Antwort auf die aus vielleicht gut gemeinten, aber letztlich verheerenden technischen Eingriffen resultierenden Bedrohungen. Eine langfristige Risikobetrachtung fließt aus strukturellen Gründen häufig weder in die Planung noch in die finanzielle und rechtliche Bewertung von Optionen ein. Manche Rechtsinstrumente sind geradezu kontraproduktiv. Noch scheint die Gesellschaft blind für die Selbstbindung durch Arrangements zu sein, genauso für die Risikospiralen, in die wir geraten. Darüber sollten wir nachdenken, denn eine nachhaltige Gesellschaft muss aus historischer Kenntnis und mit langfristigem Blick in die Zukunft heimtückische Hinterlassenschaften vermeiden oder wenigstens minimieren.

Teile dieses Texts wurden ursprünglich veröffentlicht in: Winiwarter, V.: Von Ewigkeitslasten und Nebenwirkungen. Der Beitrag der Umweltgeschichte zu einer vorsorgenden Gesellschaft. In: Soziale Technik, Heft 5 2014, S. 2–4.

Literatur Epstein M.S. Et al.: What Were They Drinking? A Critical Study of the Radium Ore Revigator. In: Applied Spectroscopy, Vol. 63, Nr. 12/2009, S. 1406–1409.
Findlay, J.M., B.W. Hevly: Atomic Frontier Days: Hanford and the American West. Seattle: University of Washington Press 2011.
Fischer, R. et.al.: Grundsätzliche Überlegungen zu einer vorsorgenden Gesellschaft und der Rolle von Wissenschaft. In: Heike Egner, Martin Schmid (Hg.): Jenseits traditioneller Wissenschaft? Zur Rolle von Wissenschaft in einer vorsorgenden Gesellschaft. München: oekom 2012, S. 49–70.
Sieferle, R.P., U. Müller-Herold: Überfluß und Überleben – Risiko, Ruin und Luxus in primitiven Gesellschaften. In: GAIA 5.3-4, S. 135–143, 1996.
Weart, S.R.: Nuclear Fear: A History of Images. Harvard University Press 1988.
Winiwarter, V: The 2013 DIAnet International School, its aims and principles against the background of the sustainability challenges of the Danube River Basin. In: Stefano Brumat, Diana Frausin (Hg.), DIAnet International School Proceedings 2013. Interdisciplinary Methods for the Sustainable Development of the Danube Region. Gorizia, 13rd–22nd April 2013, Trieste, EUT Edizioni Università di Trieste 2013, S. 19–41.
Winiwarter V., H.-R. Bork: Aus Umweltgeschichte lernen? Ein Plädoyer für Weitsicht, Rücksicht, Vorsicht und Zuversicht. Wien: Picus 2014.
Winiwarter, V., M. Knoll: Umweltgeschichte. Köln/Weimar/Wien: UTB 2007.

Zur Person

Prof. Dr. Verena Winiwarter, Jahrgang 1961, ist Professorin für Umweltgeschichte und Leiterin des Zentrums für Umweltgeschichte der Universität Klagenfurt, Standort Wien. Sie ist korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wurde vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten zu Österreichs „Wissenschaftlerin des Jahres 2013“ gewählt.
 
Fotorecht: Lukas Winiwarter

Hochschule

Auf der Website des Instituts für soziale Ökologie der Alpen-Adria-Universität (Klagenfurt, Graz, Wien) finden Sie Informationen zu Professor Verena Winiwarters Vita, ihren Projekten, Veröffentlichungen und Lehrveranstaltungen.

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Zur Person

Prof. Dr. Hans-Rudolf Bork, Jahrgang 1955, ist Professor für Ökosystemforschung an der Universität Kiel. Er forscht weltweit über Landnutzung und Böden. Von 2008 bis 2013 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geographie.

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Seite des Instituts für Ökosystemforschung der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Hier finden Sie nähere Informationen zu Professor Hans-Rudolf Bork, seinen Forschungsschwerpunkten sowie eine Publikationsliste.

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Professor Hans-Rudolf Borks eigene Website. Hier finden Sie Informationen zu seiner Vita, eine ausführliche Liste seiner Veröffentlichungen sowie eine Mediathek mit TV-Beiträgen von Professor Bork.

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