Die große Zäsur

Paradigmenwechsel im Risikomanagement

„Investoren scheuen das Risiko“, schrieb im September 2005 die Frankfurter Allgemeine Zeitung über das Anlageverhalten deutscher Großanleger. Diese nur wenige Monate später durch die erste Risikomanagementstudie von Union Investment bestätigte Aussage beschreibt ein bekanntes Phänomen: Hierzulande präferieren institutionelle Investoren risikoarme Investments. Sicherheit geht ihnen vor Rendite. Folgerichtig hatte Risikomanagement für die meisten Profiinvestoren lange Zeit vor allem einen defensiven Charakter. Oberstes Ziel war es, Risiken zu vermeiden. Das bewusste Eingehen von Risiken zur Renditesteigerung im Rahmen eines offensiv ausgerichteten Risikomanagements stand nicht auf der Agenda. Das musste es auch nicht. Denn mit Renditen von sechs Prozent für eine zehnjährige Bundesanleihe boten Staatsanleihen damals einen sicheren und ertragreichen Hafen. „Keine Experimente“ lautete in Anlehnung an das Adenauer’sche Wahlkampfmotto von 1957 die Devise.

Der Fluch des billigen Geldes

Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Investmentwelt heute eine andere. Zwar hatte es bis dahin bereits einige Finanzkrisen gegeben. Aber keine sollte die Grundlagen der Kapitalanlage so fundamental verändern wie die Verwerfungen im Zuge der Lehman-Pleite. Nie zuvor war das Finanzsystem durch eine Vielzahl unterschiedlicher, miteinander wechselseitig verwobener Krisenherde derart gravierend aus dem Gleichgewicht geraten. Neben der Finanz- und Bankenkrise galt es, die globale Rezession sowie das durch diverse Rettungsmaßnahmen verschärfte Problem der Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. Auf die multiple Herausforderungslage reagierten die Staaten und Notenbanken mit unterschiedlichen Maßnahmen, vor allem aber mit einer bis dahin beispiellosen Politik des billigen Geldes. Um den Zusammenbruch der Realwirtschaft sowie Deflation zu verhindern, wurden die Leitzinsen gegen null gesenkt und die Märkte über das Instrument der quantitativen Lockerung mit immer weiterem Geld geflutet. Das Niedrigzinsumfeld war geboren.

Was aus konjunkturpolitischer Sicht sinnvoll erscheint, entpuppte sich als Schock für die traditionelle Kapitalanlage der Investoren

Was aus konjunkturpolitischer Sicht sinnvoll erscheint, entpuppte sich als Schock für die traditionelle Kapitalanlage der Investoren. Das historisch tiefe Zinsniveau sowie der Verlust sicherer Häfen sorgten für eine neue Situation: Der risikolose Zins – über Jahre der zentrale Anker der Anlagestrategie deutscher Großanleger und feste Bezugsgröße in der Kapitalmarktheorie – hatte sich in ein zinsloses Risiko gewandelt. Die Folgen waren dramatisch. Mit klassischen Rentenanlagen ließen sich die erforderlichen Erträge kaum noch erzielen. Exemplarisch für diese Entwicklung stehen die Lebens- und Rentenversicherer. Angesichts langfristig niedriger Zinsen geriet die Branche in ihrem Bemühen, den versprochenen Garantiezins zu erwirtschaften, in ein schwieriges Fahrwasser. Für das Neugeschäft musste der Garantiezins daher schrittweise zurückgeführt werden, zuletzt auf das Rekordtief von 1,25 Prozent.

Wie gravierend das Niedrigzinsumfeld die traditionelle, auf sichere Rentenpapiere fokussierte Investmentstrategie deutscher Investoren herausfordert, zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Renditen zehnjähriger deutscher Staatsanleihen. Betrugen diese im Jahr 2008 noch durchschnittlich vier Prozent, so konnten Anleger im Frühjahr 2015 mit diesen Papieren eine Rendite von gerade einmal 0,2 Prozent erzielen. Bei den fünfjährigen Bundesanleihen lag sie zur selben Zeit sogar im Minusbereich. Ähnliches gilt für andere, ebenfalls als risikoarm eingestufte Sektoren des Fixed-Income-Bereichs, wie etwa den deutschen Pfandbriefmarkt. Das Renditeplus gegenüber zehnjährigen Bundesanleihen betrug hier im Frühjahr 2015 magere 30 Basispunkte.

Die Neubewertung des Risikos

Angesichts dieser Problematik ist vor allem eine Frage in den Vordergrund gerückt: Wie lassen sich auskömmliche Erträge unter den veränderten Bedingungen der Kapitalanlage überhaupt noch generieren?

Risikofreie Rückzugszonen sind nicht mehr existent – das Risiko ist zum Dauerzustand geworden

Die Antwort darauf ist eng verbunden mit der für viele deutsche Investoren unbequemen Erkenntnis, dass es ohne Risiko nicht geht. Die lange bevorzugten sicheren Häfen gehören der Vergangenheit an. Risikofreie Rückzugszonen sind nicht mehr existent – das Risiko ist zum Dauerzustand geworden. Die Bedeutung von Risiko und Risikomanagement hat sich damit signifikant gewandelt. Risiko kann nicht mehr vermieden, sondern es muss bewusst eingegangen werden. Es geht darum, die mit Risiken verbundenen Chancen zu erkennen und kontrolliert für die Kapitalanlage zu nutzen. Das Risikomanagement muss sich aus seiner defensiven Betrachtungsweise lösen und einen Beitrag zum offensiven Chancenmanagement leisten.

Das Risikomanagement ist zur zentralen Stellschraube im Vermögensmanagement der Post-Lehman-Ära und damit zur Gretchenfrage der Kapitalanlage geworden. Als Reaktion haben sich die Präferenzen der Investoren verändert. Innerhalb des klassischen Orientierungsrahmens von Sicherheit, Liquidität und Rendite erhält letztgenannter Aspekt eine zunehmend größere Bedeutung. Fast ein Fünftel der von Union Investment seit zehn Jahren regelmäßig befragten Großanleger erachtet die Rendite inzwischen als das generell wichtigste Kriterium ihrer Kapitalanlage. Dies ist der höchste Wert seit der Finanzkrise. Analog ging auch die Risikoaversion der Investoren deutlich zurück. Ein erstes Umdenken hat bereits begonnen.

Die Dekade der Herausforderungen

Die Neuausrichtung der Kapitalanlage in Zeiten der Risikodominanz ist alles andere als eine Fingerübung. Nie waren Investoren stärker gefordert als in den vergangenen zehn Jahren. Erhöhter Renditedruck, gesunkene Risikobudgets, instabile Finanzmärkte, globale Krisen und eine ausufernde Regulierungsflut – all diese Herausforderungen unterzogen die Anleger einem permanenten Stresstest. Ruhephasen gab es nicht, traditionelle Investmentansätze hatten ausgedient. Neues Denken, Veränderungsbereitschaft, Ausprobieren und Adjustieren waren gefragt, ein Königsweg nicht erkennbar. Im Gegenteil: Individuelle Anlageziele und Präferenzen sowie unterschiedliche, aus internen und externen Restriktionen herrührende Besonderheiten machten die Erstellung einer Blaupause unmöglich.

Risikomanagement ist Chancenmanagement

Aus Sicht eines Risikomanagements, das der Chancennutzung und Vermögenssicherung gleichermaßen verpflichtet ist, lässt sich jedoch eine Anforderung identifizieren, die für den Erfolg der risikokontrollierten Kapitalanlage eine zentrale Rolle spielt. Gemeint ist die aktiv-dynamische Portfoliosteuerung. Zwei Beispiele machen deren Bedeutung sichtbar. In der Asset Allocation führt an zunehmender Diversifikation kein Weg vorbei. Nur so können neue Renditequellen erschlossen werden. Die Finanzkrise hat jedoch die Grenzen der breit gestreuten Vermögensallokation mit statischen Gewichten aufgezeigt. Neue Konzepte der dynamisierten Diversifikation sind gefragt. Risikogesteuerte Ansätze der Asset Allocation bieten hier einen Mehrwert. Sie führen eine Steuerung ein, welche – anders als bei Markowitz – auf Volatilitäts- und Korrelationsannahmen basiert und die kontinuierliche Anpassung an sich verändernde Marktbedingungen ermöglicht.

Ähnliches gilt für den Bereich der Wertsicherung. In Zeiten zinslosen Risikos stehen Anleger auch hier vor neuen Aufgaben. Zuvor hatte der wertsichernde Wechsel in eine risikolose Anlage vor allem bedeutet, dass Zusatzerträge aufgegeben werden mussten. Heute hat der Rückzug den generellen Verzicht auf Erträge zur Folge. Dies hat Auswirkungen auf das Risikomanagement. Da die Chancen am Kapitalmarkt permanent genutzt werden müssen, steht das Portfolio ständig im Risiko. Deshalb bedarf es einer intelligenten, dynamischen Steuerung, die einerseits die Wertsicherung sicherstellt und andererseits die Präsenz im Risiko dort nutzt, wo mit Blick auf die sich verändernden Marktgegebenheiten Renditechancen erkennbar sind.

Letztlich bleibt gutes Risikomanagement aber stets eine individuelle Anforderung. Strategien, Methoden und Modelle können helfen, die damit verbundenen Aufgaben nachvollziehbar und strukturiert anzugehen. Am Ende müssen sie jedoch zu Ergebnissen führen, die den jeweiligen Bedürfnissen der einzelnen Investoren gerecht werden.

Zur Person

Alexander Schindler, Jahrgang 1957, ist Mitglied des Vorstandes der Union Asset Management Holding AG. Parallel ist Schindler Mitglied des Board of Directors der BEA Union Investment Management Limited, Hongkong und seit 2015 Präsident der European Fund und Asset Management Association ­(EFAMA). Vor 2004 war Schindler in verschiedenen verantwortlichen Funktionen für das Bankhaus Sal. Oppenheim Jr. & Cie KGaA und die Commerzbank AG tätig. Schindler ist gelernter Bankkaufmann und Volljurist.

Unternehmen

Auf der Website von Union Investment finden Sie eine Kurzvita von Alexander Schindler sowie weitere Informationen über Union Investment.

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Die Risikomanager

Website von Union Investment, die sich ausschließlich mit dem Thema Risikomanagement im institutionellen Asset Management befasst.

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Interview

Auf der Website der Börsenzeitung finden Sie ein Interview mit Alexander Schindler zum Thema Herausforderungen im Risikomanagement (7. November 2013).

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